Nur einen großen Sprung brauche ich zu tun, dachte das Kamel, dann stände ich auf der anderen Seite des Wassergrabens, der mich von den vielen Besuchern hier im Zoo trennt. Dann an den Zoowärtern vorbeirennen, durch die Stadt quer durch, danach über die Landesgrenze und weiter, immer, immer weiter nach Süden, bis in das schöne Arabien mit vielen Palmen,Oasen, Wüsten und Karawanen. Ich würde das schaffen, dachte das Kamel und zermahlte bedächtig etwas Gras zwischen den Zähnen.
Warum tue ich es dann nicht, überlegte es weiter, und bewegte seinen Kiefer gemütlich hin und her und her und hin. Nein, die Angst vor den Wärtern war es nicht, die das Kamel zurück hielt den Zoo zu verlassen. Der tiefere Grund musste woanders liegen. Was habe ich denn eigentlich davon, fragte es sich weiter, wenn ich jetzt durch die Gegend renne, weiter und weiter, bis nach Arabien? In Arabien muss es sehr schön sein. Es ist viel wärmer als hier in Deutschland. Aber wäre ich dort wirklich ein freieres Kamel als hier? Wäre nicht der einzige Unterschied, dass ich dort stände und nicht hier und monatelang gerannt wäre und gerannt und gerannt? Dass ich mein Gras während der Reise immer in Hast kauen müsste, immer die Ohren zur Vorsicht aufgestellt, immer mit geblähten Nüstern, stets bereit zur Verteidigung, immer bereit zu Flucht oder zum Kampf, nur weil es mir hier im Zoo gerade zu langweilig erscheint? Ist Flucht nicht auch eine Art von Unfreiheit? Ich käme mir auf dem Weg auch immer vor wie in einem Käfig, immer weiter, immer rennen, immer diese Angst. Außerdem gibt es in Arabien weniger Wasser zu trinken, als hier.
Nein, beschloss es für sich, diese Freiheit will ich nicht. Für andere mag sie erstrebenswert sein, mir reicht mein Dasein hier. Ich kann ganz zufrieden sein, ich brauche das nicht wirklich und es mahlte weiter Gras zwischen seinen Zähnen, beobachtete die Zoobesucher und befragte einen Kumpel zu der Sache. Na ja, eigentlich war der das Chefkamel der Herde. Sie diskutierten und kamen zu einem gemeinsamen Ergebnis. Plötzlich brüllten sie gemeinsam laut los, so dass alle Tiere im Zoo sie hören konnten:“ Wenn wir möchten, könnten wir jederzeit hier aus dem Zoo heraus spazieren und könnten in Freiheit überall hingehen wohin wir wollten. Aber wir wollen genau hier im Gehege stehen. Wir sind freie Tiere unter einem freien, weiten Himmel. Wir könnten gehen, aber wir bleiben freiwillig hier“. Und die beiden waren sehr zufrieden und fühlten sich stolz, frei und glücklich und zermahlten Gras zwischen ihren Zähnen.
Die anderen Tiere im Zoo hörten, was die Kamele da riefen und sie wurden neidisch und unzufrieden mit ihrem Los, denn sie standen gefangen im umzäunten Außenanlagen und abgesperrten Gehegen. Wahrscheinlich würde ihnen niemals jemand die Chance geben zu entscheiden, ob sie gerne frei sein würden und den Zoo verlassen möchten. Da fühlten sie sich plötzlich viel weniger frei als jemals zuvor und bissen in ihre Gitterstäbe und sie waren nicht mehr so glücklich.
Autor: Christina Gerlach-Schweitzer