Ein Lamm war durstig und ging zum nahen Bach, um daraus zu trinken. Als es aufschaute, sah es, dass ihm gegenüber am anderen Ufer des Baches ein Wolf stand und ebenfalls Wasser schlabberte. „Was erlaubst Du dir, mir das Wasser zu trüben?“ rief ihm der Wolf zu. „Das kann nicht sein“, erwiderte das Lamm, „denn Du stehst oberhalb von mir, der Bach fließt in meine Richtung, nicht in Deine.“
„Widersprich mir nicht“, antwortete da der Wolf, „denn Du warst es, der im vorigen Jahr über mich erzählt hat, dass ich stolz und überheblich sei.“
„Auch das stimmt nicht“ antwortete das Lamm, „erstens sehe ich Dich heute zum ersten Mal und zweitens war ich im vorigen Jahr noch gar nicht geboren.“
„Dann war es Dein Bruder, der mich verleumdet hat“, erwiderte der Wolf grimmig.
„Ich habe keinen Bruder“, antwortete das Lamm verängstigt.
„Bruder, Vater, Mutter, Vetter, Onkel, wer auch immer es war, sie haben mich beleidigt.“ rief der Wolf. „Dafür musst Du mir büßen.“ Er sprang über den Bach, schnappte sich das Lamm und fraß es auf.
Moral der Geschichte: der Stärkere findet immer eine Begründung, wenn er Unrecht begeht. – Erinnert uns das an etwas?
Äsop